eine Randnotiz über das Leben aus dem gepackten Koffer, ohne Wohnung, in Bern aber nicht mehr Daheim.

Heute habe ich meine Wohnungsschlüssel abgegeben. Das war's. Kein Zurück mehr. Die Räume, in denen ich morgens Kaffee getrunken, abends TV geschaut und dazwischen irgendwie gelebt habe, gehören nicht mehr mir. Jetzt sind sie leer - ohne Bücher, Pflanzen und das hässliche Sofa, das ich heimlich geliebt habe. Tschüss Tannenweg. Aber wo gehöre ich jetzt hin? Nicht mehr hier, noch nicht in Kenia - ich bin irgendwo dazwischen. Im Limbus.
Ein seltsames Wort, "Limbus". Es stammt aus dem Lateinischen und bedeutet so viel wie Rand oder Saum. Ein Zwischenraum, ein Übergangsbereich. So wird zum Beispiel der Übergangsbereich zwischen der Hornhaut und der Sklera im Auge als Limbus bezeichnet. Weder ganz das eine, noch das andere. So wie ich jetzt weder ganz in Bern, noch ganz in Kenia zuhause bin. Jetzt bin ich eben im Limbus, in diesem Raum zwischen dem Vertrauten und dem Unbekannten, zwischen dem Leben, das ich hinter mir lasse, und dem Abenteuer, das vor mir liegt. Diese paar Tage dazwischen, eine Randnotiz des Abenteuers Kenia.
Dante, der italienische Dichter und Philosoph, hat den Limbus in seinem Inferno als klar umrissenen Ort beschrieben: den ersten Kreis der Hölle. Ein Ort für Seelen, die ohne eigenes Verschulden nicht ins Paradies gelangen konnten, wie ungetaufte Kinder und tugendhafte Heiden, die vor der Zeit Christi lebten. Der Limbus in Dantes Inferno ist ein düsterer Wartsaal, in dem Seelen in einer ewigen Sehnsucht verharren. Aber vielleicht gibt es noch andere Limbusse. Limbusse, die nicht so trist sind, wie der von Dante.
Mein Limbus fühlt sich nämlich nicht trist an. Jetzt, in dem Moment, wo ich meine Wohnungsschlüssel abgegeben habe und mit meinen zwei Koffern dasitze - die, ehrlich gesagt, fast so viel wiegen wie ich selbst -, fühlt sich dieses Dazwischen anders an. Es ist nicht nur Schwebe. Es ist ein Kribbeln, ein Vorbeben, eine Spannung, die sowohl beängstigend als auch verlockend ist. Ein bisschen wie am Rand eines Sprungbretts zu stehen, wenn man nervös und vorfreudig zugleich ist.
Es war merkwürdig, die Wohnung zu verlassen. Die vertrauten Geräusche der Nachbarn, das sanfte Brummen der Garagenlüftung, das beruhigende Klopfen des Buntspechts draussen an der Hasel - all das wird jetzt still. Und doch, je mehr ich von diesem Ort loslasse, desto klarer wird mir, wie sehr er mich geprägt hat. All die Erinnerungen an den Tannenweg nehme ich mit, es ist mein Reiseproviant, der bei der Gepäckaufgabe nicht ins Gewicht fällt und doch meinen Rucksack ordentlich füllt. Das Kapitel Tannenweg hat sich geschlossen, doch Kenia wartet schon. Und mit jedem Schritt ins Unbekannte wird dieser Limbus weniger wie ein Wartsaal, sondern wie ein leeres Blatt Papier, auf dem ich die erste Zeile meines nächsten Kapitels schreibe.
Mein Limbus ist nicht so trist, wie Dantes düsterer Wartsaal. Ohne den Limbus hätte Dante nie Homer, Aristoteles und Vergil getroffen. Vielleicht ist der Limbus gar kein Ort des Stillstands und des Wartens, sondern ein Ort der Energie und des Aufbruchs. Vielleicht ist er eine Startrampe, von der aus man in eine neue Welt katapultiert wird. Er ist dieser eine Moment, in dem alles möglich ist, bevor der Schub den Körper erfasst und die Reise beginnt. Er ist ein Raum zwischen Ende und Anfang, zwischen Zögern und Handeln. Der Zwischenraum, den wir betreten, wenn wir den ersten Fuss ausserhalb unserer Komfortzone aufsetzen. Ein Ort, der uns mit dem Unbekannten konfrontiert, uns neue Wege zeigt und uns ahnen lässt, was möglich ist - wenn wir bereit sind, weiterzugehen. Mein Limbus mag ungewiss sein, aber er fühlt sich nicht wie ein Wartsaal an. Er ist eine Startrampe, ein Ort, der höllisch aufregend und himmlisch verheissungsvoll zugleich ist.
Dieser Moment gerade jetzt, in dem ich hier sitze, ohne Wohnungsschlüssel, aber mit einem gepackten Koffer neben mir, ist mein Limbus. Es ist ein komisches Gefühl, doch gleichzeitig hat es auch etwas Vertrautes. Vielleicht betreten wir den Limbus viel häufiger als uns bewusst ist. In jedem Umbruch, in jeder Entscheidung, die uns von der einen Realität in eine andere katapultiert, betreten wir den Limbus. Vielleicht ist das der wahre Sinn des Lebens: immer wieder in den Limbus zu treten, die Unsicherheit zu akzeptieren und im Sprung das Unbekannte zu begrüssen.
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